Radikales Interesse für den Anderen nötig

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29. Januar 2019

Was können wir für Menschen tun, die niemanden in der Nähe haben, der sich um sie sorgt? Welche Bedingungen müssen wir schaffen, damit viele Menschen ihr Lebensende so verbringen, wie Sie es möchten? Wie gelingt es, pflegende Angehörige zu entlasten? Wie können wir Mitmenschen begegnen, die eine Behinderung haben oder psychisch erkrankt sind?

„Voraussetzung für eine Kultur der Sorge in unserer Gesellschaft ist das radikale Interesse für den Anderen, die Bereitschaft, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten und die Einsicht, dass wir auf andere Menschen angewiesen sind. Es bedarf eines Haltungswechsels“, sagte Andreas Heller, Professor für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Universität in Graz, am Mittwoch im Stiftssaal von
St. Margareta in Düsseldorf-Gerresheim. Bürgerstiftung Gerricus und katholische Kirchengemeinde St. Margareta hatten gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern, der Ökumenischen Hospizgruppe Gerresheim, der Diakonie Düsseldorf, der Caritas Düsseldorf, Katholischer Seelsorge für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen Düsseldorf/ Rheinkreis/ Neuss und dem Pflege- und Altenheim Gerricusstift zum ganztätigen Workshop „Sorgekultur im Stadtteil“ eingeladen.

Rund 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hörten interessiert zu, wie der in Eller aufgewachsene Theologe Heller – untermauert durch viele Quellen aus Soziologie, Theologie und Psychologie – das Konzept der caring community beschrieb, das weltweit auf dem Vormarsch ist. Selbst Großstädte wie London arbeiteten daran, zur compassionate city, also zur solidarisch helfenden und mitleidenden Stadt zu werden. Ziel sei es, „weg von der Leistungsgesellschaft hin zu einer Sorgegesellschaft“ zu kommen. Den anderen in den Blick zu nehmen und seine Sorgen zu teilen, sei wichtig, so Andreas Heller.

„Besonders Sterben, Tod und Trauer gehen uns alle an“, sagte der Experte für Sorgekultur, und rief die Teilnehmer auf, Menschen „absichtslos Gastfreundschaft“ zu gewähren, egal, ob sie reich oder arm seien. Ohne Unterstützung von Mitmenschen sei die Familie – wenn vorhanden – häufig überfordert. Dabei regte Heller an, dass mehr Wissen über bereits bestehende Unterstützungsangebote Bürgerinnen und Bürger zugänglich gemacht werde.

Prof. Andreas Heller möchte weg von einer „Leistungsgesellschaft“ hin zu einer „Sorgegesellschaft“ kommen.

Wichtig sei auch, dass sich Betroffene zum Austausch zusammen fänden. Ein Beispiel kommt aus dem niedersächsischen Bad Bentheim. Dort gab es unter dem Titel „Sorgen auf den Tisch“ das Angebot für pflegende Angehörige, sich mit Menschen in der gleichen Situation über ihre Probleme und ihre Schuldgefühle auszutauschen.

Als gutes Beispiel für eine Sorgekultur in anderen Städten nannte Andreas Heller das Projekt „Hospiz macht Schule“, an dem bundesweit bereits rund 300 Grundschulen in Kooperation mit Hospizen teilgenommen haben. Für Heller steht fest: „Kinder, Eltern und Lehrer sollten von Sterben und Mitgefühl so viel Ahnung haben wie vom Rechnen.“

Laut Professor Heller sind es die kleinen Hilfen, die den Unterschied ausmachen. Dies sei der Fall, wenn jemand für seine „böse Nachbarin“ eine Suppe koche. Oder wenn Mitbewohner in einem mehrstöckigen Altbau auf jede Etage einen Stuhl stellten, damit die ältere Dame sich beim Treppensteigen ausruhen könne.

Auch zum Thema Regelungen gab Heller den Zuhörern etwas mit auf den Weg. „Vorsorgedialoge sind besser als Abhaklisten für das Lebensende, die alleine im stillen Kämmerlein ausgefüllt werden.“ Andreas Heller gab zu bedenken, dass die Forderung, jeder müsse sein Leben bis zuletzt geregelt haben, viele Menschen unter Stress setze. Zugleich habe aber jeder einzelne eine Verantwortung gegenüber seinen Angehörigen und seinen Nachbarn. „Wir haben die Illusion der Autonomie bei Entscheidungen. Jedoch betreffen die Folgen immer auch andere.“

Heller empfahl den Gerresheimern, bei Netzwerkveranstaltungen nicht nur zu schauen, was andere Organisationen machten, sondern wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen und gemeinsame Projekte zu planen. Nur eine ernsthafte Zusammenarbeit schaffe gute Angebote für den Stadtteil.

Barbara Krug rief dazu auf, den „Blick auf den Nächsten“ wieder einzuüben.

Auch die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Workshops hatten eigene Ideen für die weiterführende Arbeit im Stadtteil: Eine Teilnehmerin schlug vor, Raum für Mehrgenerationen-Treffen im „vergessenen Stadtteil Gallberg“ zu schaffen. Viele Bürger seien es leid, immer nach Gerresheim oder Knittkuhl fahren zu müssen. Bereits ein ganz konkretes Projekt präsentierte eine zuhörende Dame: „Wir werden in Zukunft zusammen kochen und essen und damit füreinander sorgen.“ Eine andere Teilnehmerin regte an, Angebote für Menschen zu schaffen, die zwar im Ruhestand seien, aber sich noch zu jung fühlten, um in ein „zentrum plus“ zu gehen. Bedauert wurde, dass das Krankenhaus nicht mehr eng mit dem Stadtteil verbunden sei.

Barbara Krug, Zeitstifterin der Bürgerstiftung Gerricus und Organisatorin des „Sorgekulturtags“ zeigte sich zufrieden mit dem Verlauf des Workshops. Sie betonte aber auch: „Jetzt gilt es, an den Themen weitzuarbeiten, sich zu vernetzen und Ideen in konkrete, niederschwellige Angebote umzusetzen.“ Sie rief dazu auf, „in Kontakt zu gehen“ und gemeinsam zu überlegen, wie Nachbarn aus der Empathiemüdigkeit geholt werden könnten. Denn Barbara Krug ist sich sicher: „Das WIR und den ‚Blick auf den Nächsten‘ müssen wir wieder einüben.“