Die Tübinger Professorin für Dogmengeschichte, Johanna Rahner, zu einer drohenden Kirchenspaltung, zur Authentizität des Glaubens und einer neuen Struktur der katholischen Kirche.
Ein offener, fairer Streit über grundsätzliche Glaubensfragen muss ausgetragen werden werden können, sonst ist der Bestand der römisch-katholischen Kirche in Gefahr, kann die Einheit der Kirche zerbrechen. So schätzt Johanna Rahner, Professorin für Dogmengeschichte und Ökumene der Universität Tübingen, die gegenwärtige Entwicklung der Kirche ein. Sie untersuchte in einem online-Vortrag auf Einladung des Pfarrgemeinderates der katholischen Pfarre St. Margareta, der Initiative Maria 2.0, der Bürgerstiftung Gerricus sowie des ASG-Bildungsforums die Frage, ob den katholischen Christen eine Kirchenspaltung droht.
Zwei grundsätzlich unterschiedliche Glaubenshaltungen prägen laut Rahner die gegenwärtige Diskussion. Die eine hält auf dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung Veränderungen für nötig, sucht Glaubensantworten, die auf neue Gegebenheiten und Lebensweisen passen, hat charismatische und prophetische Dimensionen. Die andere geht von einer festen, unveränderlichen Glaubenslehre aus, die Menschen zu verinnerlichen haben. Der universell geltende Katechismus beschreibt diese Lehre. Die Kirche wird als Institution gesehen, die Dogmen festlegt.
Diese widerstreitenden Sichtweisen sind in der Geschichte der katholischen Kirche nicht neu, sondern haben die theologischen Auseinandersetzungen schon vor Jahrhunderten geprägt, wie etwa das Bild Marienkrönung zeigt, das Hans Baldung Grien Anfang des 16. Jahrhunderts für den Hochaltar des Freiburger Münsters geschaffen hat. Es wurde von Georg Henkel, pädagogischer Mitarbeiter für Theologie und Spiritualität der ASG, aufschlussreich interpretiert.
Mit dem Auseinanderdriften von religiösen Grundauffassungen müssen wir zurechtkommen, ist Rahner überzeugt. Denn wir lebten in einem „Zeitalter der Authentizität“ – wie Charles Taylor sage. Heute stehe die individuelle Aneignung von Glaubensinhalten im Vordergrund. Jeder suche entsprechend seiner Lebenssituation passende religiöse Aussagen heraus. Diese Entscheidungen könnten punktuell sein, emotional sehr tief, aber auch flüchtig. Alles sei im Fluss. Der eigene Lebensstil stehe im Vordergrund. Das mache die Authentizität aus. Die Bereitschaft schwinde, den eigenen Lebensstil nach konfessionellen oder kirchlichen Vorgaben auszurichten. Die Gemeinschaft der Christen werde nun als Gemeinschaft unterschiedlicher Individuen gesehen und nicht mehr als eine geschlossene Gruppe, in der alle Glaubensauffassungen gleich seien und in der einer sage, wo es lang geht.
„Diese neue Haltung führt zu einer Zerreißprobe der Institution Kirche“, konstatierte Rahner. Denn es werde eine Kirchenstruktur infrage gestellt, die als Ausläufer der Ideologie des 19. Jahrhunderts gelten könne und die die Kirche zur Hüterin einer einzigen Wahrheit mache, die auch in Abgrenzung und Abschottung zur Gesellschaft verteidigt werden müsse. Festgelegt sei diese Wahrheit im Kirchenrecht, das – so Rahner – „die Grenze der denkbaren Theologie festlegt. Aber es muss eher umgekehrt gelten, dass das Recht immer der Theologie folgt.“
Gegen diese theologische Auffassung des 19. Jahrhunderts „hat das Zweite Vatikanische Konzil Glauben als eine Beziehung, als lebendiges Miteinander von Gott und Mensch bestimmt“, so Rahner. Gott rede jeden Menschen an. Deshalb seien ein Dialog und eine Auseinandersetzung über Glaubensfragen nötig. Das Verhältnis von individueller Religions- und Gewissensfreiheit einerseits und Institution Kirche andererseits sei neu zu bestimmen. Rahner: „In der katholischen Weltkirche kann nicht nur eine Sicht gelten, es muss mehrere Katholizismen geben können.“ Wenn diese Herausforderung des Dialogs nicht gemeistert würde, drohe eine Kirchenspaltung.
Text: Michael Brockerhoff
Der Online-Vortrag von Prof. Dr. Johanna Rahner war der (vorerst) letzte Vortrag der Reihe „Katholische Kirche – Dialog 2.0: Wo geht’s hin Kirche?“.