Vertrauensraum für Betroffene schaffen
Jesuitenpater Klaus Mertes zieht ein Resümee seiner Erfahrungen bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals.
Den Stein ins Rollen brachte ein Besuch von drei ehemaligen Schülern des Berliner Canisius-Kollegs beim damaligen Leiter, dem Jesuitenpater Klaus Mertes. Sie wollten über ihren erlittenen Missbrauch während ihrer Schulzeit sprechen, um die ausgrenzende Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Mertes begann mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals, der 2010 dann öffentlich wurde.
Auf dem Hintergrund der verschiedenen, meist umstrittenen Entwicklungen mit dem Umgang des Missbrauchs zog Mertes ein persönliches Resümee in einem Vortrag auf Einladung der Bürgerstiftung Gerricus, der katholischen Gemeinde St. Margareta und dem ASG Bildungsforum im Rahmen der Reihe Kirche – Dialog 2.o und schilderte unter fünf Stichpunkten seine Erfahrungen. Seine grundlegende Erkenntnis: Beginnt die Aufarbeitung mit einer falschen Sicht und mit Fehlern, scheitert sie. „Das Ende entscheidet sich Anfang“, hatte Mertes denn auch als Thema des Erfahrungsberichtes genannt.
Auf den Umgang mit den Betroffenen ging Mertes als erstes ein. Die Menschen, die Missbrauch erleiden, dürften nicht als Opfer bezeichnet werden. Diese Einstufung reduziere diese Menschen auf eine bestimmte Rolle. Aber die Auswirkungen auf deren gesamtes Leben seien komplexer. „Missbrauch bedeutet Ausgrenzung aus der Gemeinschaft“, sagte Mertes. Das Schlimme daran: Gemeinschaft merke dies nicht. Das Ziel einer Aufarbeitung müsse daher die Aufhebung der Ausgrenzung sein, das Schaffen eines Umfeldes, in dem sich die Betroffenen verstanden fühlen. Oft jedoch werde die Aufarbeitung als Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Kirche gesehen. Das sei ein falscher Ansatz, der die Belange der Betroffenen außer Acht lasse.
Auf die Merkmale der Taten ging Mertes als nächstes ein. Seine Einschätzung: „Liebe spielt für den Täter keine Rolle.“ Der Missbrauch werde beispielsweise als Strafe, als Test oder Belohnung ausgegeben. Die Täter würden systematisch planen, ihre Dominanz inszenieren und Unterwerfung erreichen. Der Betroffene sehe diese Struktur aber nicht. Weil ein Täter seine Dominanz über Jahre hinweg ausleben wolle, vergreife er sich an mehreren Jugendlichen. Es gebe also pro Täter mehrere Betroffene. Das sei auch möglich gewesen, weil so gut wie nie etwas gemerkt wurde.
„Wie konnte das sein?“ Mit dieser Frage leitete Mertes zum dritten Punkt, der Vertuschung, über. Für sie gebe es viele Gründe. Betroffene wollten wegen Schuld- und Schamgefühlen nicht über die Geschehnisse sprechen. Und wenn Betroffene dies versucht hätten, wurde ihnen allermeistens nicht geglaubt – „über Priester spricht man nicht so!“ Sei doch einmal ein Missbrauch bekannt geworden, sei häufig der Täter aus Schule oder Gemeinde herausgeholt und versetzt worden. „Aber die Betroffenen sind vergessen worden, der Schutz des guten Rufs der Institution hatte Vorrang“, so Mertes.
Oder aber der Täter werde als krank eingestuft und bekomme eine Therapie verordnet. Es werde also nicht disziplinarisch durchgegriffen, sondern fürsorglich gehandelt. Und die Betroffenen seien wieder nicht im Blick.
Und nicht zuletzt spiele das der Kontext der kirchlichen Strukturen eine Rolle. Der Täter berufe
sich auf sein gottnahes Priestertum, um Nähe zum Betroffenen herzustellen und dann in der
Beziehung Macht auszuüben. Mertes: „Dieses Handeln ist auch Verstoß gegen das dritte
Gebot: „Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen“.
Statt der Vertuschung ist der Glaube ein grundlegender Akt der Aufarbeitung, benannte Mertes den vierten Punkt. Wenn ein Betroffener endlich sprechen könne, erwarte und brauche er die Zusage von einem Vertreter der Institution, dass er ihm glaubt. „Diese Zusicherung ist ein Akt
mit Konsequenzen, denn sie setzt das Prinzip Unschuldsvermutung für den Täter vor einem Urteil außer Kraft“, beschrieb Mertes ein grundlegendes Problem. Aber nur so könne ein Raum des Vertrauens geschaffen werden, meine Mertes und wies gleichzeitig darauf hin, dass die juristische Aufarbeitung oft enttäuschend sei. Viele Fälle würden von der Staatsanwaltschaft nicht als Straftat eingestuft, viele seien auch verjährt. Aber die Aufarbeitung müsse auch dann geleistet werden, wenn Taten nicht straffähig seien.
Die Verantwortung – so der fünfte Stichpunkt – für die Aufarbeitung muss man nach Überzeugung von Mertes da lassen, wo sie liegt: Bei der Institution, in der Missbrauch verübt wurde. „Betroffene können nicht daran mitarbeiten, die Verantwortung festzustellen, denn dadurch werden sie faktisch mitverantwortlich gemacht.“ Sie müssten frei sein, Anklagen zu machen gegen Täter, Vertuschung und Institutionen. Die Konfrontation sei wichtig, um das Geschehen klar und deutlich herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt könne dann an eine Kooperation herangegangen werden. Generell könne die betroffene Institution wie etwa die Kirche die Aufarbeitung nicht selbst leisten, sondern ein unabhängige Stelle müsse eingeschaltet werden. Nur so könne ein Vertrauensraum geschaffen werden, in dem die Kommunikation mit den Betroffenen gelingen könne. Und die müsse die Leitlinie bei der Aufarbeitung sein – also bei Aufklärung, Hilfe und Gerechtigkeit sowie Prävention.
Text: Michael Brockerhoff
Fotos: Angelika Fröhling und Barbara Krug